Der Zwergstaat Vatikanien
Halb kleinstädtisches Krähwinkel, halb theokratisches Fürstentum. Profan: Mit preiswerten Tankstellen, Billig-
Kaufläden, eigenen Autokennzeichen, Post und Bahn, Telefon und Radio. Sakral: Mit Petersschlüsseln im Wappen,
Heiligen als Straßenschilder-Patronen, einem Heiligen Vater und Pontifex maximus als Staatsoberhaupt und dem
Anspruch der Kirche des Papstes "das bißchen Körper" zu verschaffen, was nötig sei, um die Seele
zusammenzuhalten (Pius XI). So bietet sich der kleinste Staat der Welt dar, der auf 44 Hektar zusammengedrängte
Stato della Città del Vaticano, der Staat der Vatikanstadt, SCV. Er ist kurios und kurial und, wie Goethe über
Frankfurt gesagt hat, erstickt voller Merkwürdigkeiten.
Er hat weniger Staatsbürger (365) als Angestellte (etwa
1450). Manchmal vermehrt sich die Zahl der auf seinem
Territorium versammelten Menschen innerhalb weniger
Stunden fast auf Großstadtgröße, wenn nämlich zu den
großen Audienzen des Papstes 10.000 bis 80.000
Menschen aus aller Herren Länder die ihnen kaum
bewußte Staatsgrenze am Petersplatz überschreiten, für
die Ortskenner sichtbar an unauffällig eingelassenen
Steinplatten. Die übrigen Grenzen aber dieses winzigen
Staates rund um den Petersdom sind fast so gut
gesichert wie die der ehemaligen DDR. Wie eine
mittelalterliche Stadt ist er von Mauern, die nur an be-
stimmten Stellen passierbar sind, umgeben. Dort wa-
chen Landsknechte in Renaissance-Kostümen mit
Hellebarden, hätten zur Not aber auch automatische
Waffen.
Penibel sind die Wächter des Papstes, wenn es um Zutritt
zu den nicht der Öffentlichkeit zugänglichen Palästen,
Gärten, Kaufläden und Kirchen in jener verschachtelten
und ineinander verwobenen Kleinstadt geht. Dann muß
der Gast sich ausweisen und einen Laufzettel ausfüllen.
Ohne die Angabe eines als triftig anerkannten Grundes
oder die Vorlage einer Einladung wird niemand
vorgelassen. In einem Jahr werden nur etwa 60.000
solcher Laissez-passers ausgestellt. Und an der
Schwelle des Petersdomes. Also schon tief im
vatikanischen Staatsgebiet, wacht zwar kein Engel mit
dem flammenden Schwert, stehen aber die Moralwächter, die als unschicklich abweisen, was in Mitteleuropa
als normal gilt, ein bißchen Knie oder ein bißchen nackter Oberarm, vielleicht ein Dekolleté. In der Sommerzeit
spielen sich an diesen heiligen Pforten tragikomische
Szenen ab, als ob die Wächter des Papststaates Josef
Filsers "Briefwechsel" gelesen hätten: "Überm Knie ist es
eine Sauerei in dem es dort geschlechtlich ist." Auch im
Tagebuch der Schweizergarde wurde 1971 einer dieser
"Fälle" festgehalten: "Ein Alt-Gardist wollte mit seiner
und einer anderen Familie die Petersbasilika betreten.
Da die Töchter zu leicht bekleidet waren, wurden sie von
den am Eingang diensttuenden Aufsichtspersonen zu
rückgewiesen. Der Alt-Gardist widersetzte sich und geriet in Streit. Er wurde festgenommen und vom Vigile
(Ex-Gendarm) der italienischen Polizei übergeben. Das
Kommando erreichte nach Stunden seine Freilassung,
sah sich aber genötigt, wegen des schweren der Garde
zugefügten Schadens und Unehre, ihm Quartierverbot
zu erteilen. Temperatur 34 im Schatten. Luftfeuchtigkeit
70 Prozent." Kleider machen Leute. Der Papst ist der
Souverän dieser Duodez-Herrlichkeit, oberster Gesetzgeber
und Richter in einer Person. So großen Wert die
Kirche von Rom darauf legte, den Kirchenstaat von einst
wiederherzustellen, so wenig Wert scheinen die Päpste
darauf zu legen, möglichst viele Menschen ihrem milden
Staatsbürgerregiment zu unterwerfen. Mussolini über
Pius XI: "Der Papst war wenig begierig, Untertanen zu
haben. Vielleicht weil er glaubte, der ungestörteste Sou-
verän sei derjenige, welcher keine Untertanen hat."
So sind heute kaum noch Römer, die seit alters den
vatikanischen Hügel bewohnen, Bürger dieser Mon-
archie. Waren es 1979 noch 500 SCV-Staatsbürger so
schrumpfte 1972 mit der Auflösung des aus Italienern
rekrutierten Gendarmerie-Korps diese Zahl auf einen
Schlag um 145 gewöhnliche Sterbliche. Gegenwärtig
sind unter den Staatsbürgern 31 Eminenzen, 165
Exzellenzen, 31 Prölaten und Kleriker, vier Ordensleute, 78
Schweizer Gardisten und 59 Männer und Frauen regi-
striert, welche die Kirche "Laien" nennt - wohl die
ungewöhnlichste Zusammensetzung einer Staatsbürgerschaft,
die man sich ausdenken kann, vergleichbar
Herzmanovsky-Orlandos, des Staatserfinders, Tarocka-
nien. Die Struktur des Staates rund um den Petersdom
hat freilich nicht minder mit römischen
Herrschaftsvorstellungen zu tun: Wie im alten Rom rankt sich um die
auserlesene kleine Schar des cives romanus, will sagen
vaticanus, eine weit größere Klientel von bloßen Ein- und
Bewohnern, welche die Staatsbürgerschaft ihrer
Herkunftsländer bewahren, vor allem Italiener. Man zählt
370 Mieter und Gäste, meistens Ordensangehörige, des
Vatikanstaates innerhalb der eingemauerten Stadt und
über 2500 in den über die Ewige Stadt, also das italienische
Ausland, verstreut liegenden exterritorialen Gebäu-
den oder den durch den Lateranvertrag von Enteignung
ausgenommen Immobilien des Vatikans. Der Papst übt
seine gesetzgeberische, seine richterliche und exekutive
Gewalt über dieses Vatikanien nicht direkt aus, er hat,
ohne daß ein vorgesehener Gouverneur im Amt wäre,
seine Macht delegiert an die Kardinalskommission, an
deren Spitze der französische Kardinalstaatssekretär
Villot als Präsident mehr die Galionsfigur abgibt und der
italienische Kardinal Guerri der Chef ist. Unter dieser
Kardinalskommission wirken zwei Fachleute (auf
vatikanisch gesagt Laien) wie Kanzler und Innenminister in
einem weltlichen Staat: der delegato speciale,. Der aus
einem alten römischen Geschlecht stammende Marchese
Don Giulio Sacchetti, und als Generalsekretär dieses
Gouvernements der Advokat Vittorio Trocchi.
Paul VI, der sich wie selten ein Papst als ehemaliger
Lehrling der Kurie um Details kümmerte, hat 1969 das
Grundgesetz von 1929 modifiziert, keineswegs im Sinne
der Angleichung an das Ideal der Demokratie, ihm ging
es um die Leistungsfähigkeit der Ämter.
Die Wirtschaftsprüfer, die dem im Grunde Halbtags arbeitenden
Vatikan einmal Effizienz bescheinigt hatten, sollten
Recht behalten, und nur als Anekdote sollte gelten, daß
Johannes XXIII auf die Frage, wie viele Leute denn in
seinem Reich arbeiteten, geantwortet hatte: "Ich hoffe,
die Hälfte."
Schon die Namen der neun Ämter verraten, was alles im
Riech des Papstes eine Rolle spielt: des
Generalsekretariat; die Generaldirektion der Denkmäler, Mu-
seen und päpstlichen Galerien; die Generaldirektion der
technischen Dienste; die Generaldirektion Radio Vatica-
na; die Witschaftsdirektion; die Sanitätsdirektion; die
Direktion der vatikanischen Sternwarte; die Direktion der
archäologischen Studien und Forschungen; die Direktion
der päpstlichen Villen - eine Ressortverteilung, wie sie
wohl keine andere Regierung der Welt kennt. Dabei sind
jene die Phantasie so beflügelnden Ämter des Kirchen-
staates früherer Jahrhunderte nicht mehr am Leben, als
es noch heilige Kongregationen für die Barone des Kir-
chenstaates gab oder die heilige Kongregation del Sol-
lievo, die im 18. Jahrhundert die Aufgabe hatte, "die
Kunst der Landwirtschaft zu erneuern, zu fördern und
wieder erblühen zu lassen." Und in schummrigen Win-
keln der römischen Altstadt zwischen dem Geruch von
Katzendreck und Desinfektion mahnen doch heute die
steinernen Tafeln des Monsignore delle strade unter
Strafandrohung und bis jetzt mit wenige Erfolg zur
Sauberkeit. 1969 bestand als zehntes Ministerium außerdem
das Gendarmerie-Kommando, aber 1971 rüstete Paul VI
ab, er wollte weniger martialisch erscheinen. Denn
gemessen an der Zahl seiner Bürger, war er damals der
am meisten gerüstete Souverän dieser Erde. Aus jenem
Gendarmerie-Krops wurde dann das Ufficio centrale de
Vigilanza, eine bessere Wach- und Schließgesellschaft,
zugeordnet dem Generalsekretariat, dem wichtigsten der
SCV-Ministerien. Jenem Zentralamt unterstehen acht
Unterämter: das Rechtsamt etwa oder das Personal-
und Standesamt. Italienische "Ausländer" legen größten
Wert darauf eine Eheschließung im Schatten der
Peterskuppel, 111 Paare waren es 1975. Auch Sterbefälle
müssen registriert werden. Für die Toten reichen die
eigenen Friedhöfe nicht mehr aus. Abgesehen vom
Papst, der das Recht hat, in der Peterskirche begraben
zu werden, oder von den Bürgern des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die auf dem
winzigen exterritorialen Gebilde des Campo Santo
Teutonico begraben werden können.
Das Generalsekretariat verfügt weiter über eine zentrale
Buchhaltung, über ein Briefmarken- und ein Münzamt,
ein Post- und Telegraphenamt, das Handelsamt,
besagtes Sicherheitsamt und ein Informationsamt für
Pilger und Touristen.
Die Münze des Vatikans kann nach einem Abkommen mit
Italien bis zu 200 Millionen Lire selbst auflegen, was
beim Verfall der italienischen Währung freilich nur ein
Tropfen auf den heißen Stein der unentwegt finanziellen
Atemnot Vatikaniens ist. Nicht nur die Briefmarken sind
beliebte Sammlerobjekte, auch die Post erfreut sich des
Zuspruchs vieler Ausländer, weil sie trotz ihrer
Abhängigkeit von den ständig streikerschütterten
Verbindungswegen Italiens pünktlicher arbeitet als die
des großen Nachbarn. Noch begehrter vielleicht sind die
Läden des Zwergstaates, da der Vatikan ohne
italienische Zölle und damit unter Umgehung der Schutzpreise
der Europäischen Gemeinschaft für die Landwirtschaft
sich ziemlich billig mit Waren hoher Qualität
eindecken kann. Die Berechtigungsscheine - der Vatikan
kennt noch ein Marken- und Kartensystem wie die
Deutschen in ihren Notzeiten - für die Anona oder die Magazine
des Economato sind sehr gefragt. Einkaufen oder
an den billigen Zapfsäulen tanken können sämtliche
1450 Angestellten des Vatikanstaates, aber auch die
genauso zahlreichen Bediensteten des mit dem Vatikanstaat
rechtlich nicht identischen Heiligen Stuhls, die bei
ihm akkreditierten ausländischen Diplomaten und römische
Geistliche. Durch Whisky und Butter, durch
gefälschte Berechtigungsscheine, durch Neid und
Kleinstadttratsch kam dieser schwunghafte Handel immer
wieder ins Gerede und wird deshalb nun fast preußisch
streng überwacht. Wichtiger als dieser Handel sind als
Einnahmequellen die Eintrittskarten zu den
Vatikanischen Museen, die freilich wiederum nur einen
bescheidenen Beitrag erlösen, wenn man an die Werte denkt,
die zu erhalten sind. Die Zahl der Museumsbesucher
wächst regelmäßig. Im Heiligen Jahr 1975 waren es
1.794.300.
Der Zwergstaat dürfte unter Paul VI eines der bauwü-
tigsten Staatsgebilde der Welt geworden sein. Paul VI
knüpft damit an die Architekturlust seine barocken
Namensvorgängers, Paul V (1605-1621), an. Oft dröhnten
in der Vatikanstadt die Preßlufthämmer, entstanden
gigantische Werke, welche die alten Fundamente erschüttern,
wurde ein Dachgarten allein für den Papst auf
den Apostolischen Palast gesetzt, wurde die Audienzhalle
des Italienischen Stararchitekten Nervi für 20.000
Menschen gebaut, werden Wänden von sechs Meter
Dicke durchbrochen, wurde ein modernes Museum der
Archäologie errichtet, wird Raum für ein Museum der
modernen Kunst gesucht, werden Altäre versetzt, die
nicht mehr zu Liturgie-Reform passen, wird Platz für
Computer und Klimaanlagen geschaffen, wird das
Nachrichtensystem ausgebaut, um den Stolz zu stützen, daß
das vatikanische Telefonsystem eines der besten der
Welt ist und noch vor den Amerikanern die automatische
Vermittlung einführte.
Gearbeitet wird jedoch nicht nur auf dem engen
Territorium, den pittoresken verwinkelten Gängen und
Gebäuden der Vatikanstadt, welche in den Jahrhunderten
sich ineinander verzahnt haben. Der Zwergstaat baut
auch draußen auf dem flachen Lande, wo er von einem
weiteren Überbleibsel des Heiligen Römischen Reiches,
den deutsche-österreichisch-ungarisch-jugoslawischen
Priesterseminar Germanicum, für 99 Jahr das Gelände
gepachtet hat, auf dem einer der potentesten
Rundfunksender der Welt steht, Radio Vaticana. Papst Paul der
als fliegender Papst in die Kirchengeschichte eingehen
wird, hat zur modernen Ausrüstung dieses von Moral
und Anspruch aus gesehen antiken Kleinstaates ein
Weiteres getan: einen eigenen kleinen Flughafen in den
Vatikanischen Gärten anlegen lasse, einen
Hubschrauberplatz, wobei auf Werbewirksamkeit bedachte Politiker
bei Staatsbesuchen wohl lieber auch künftig vor der
grandiosen Kulisse des Petersplatzes einschweben
dürften, wo sie ihr Publikum sehen kann. Der frühere
Präsident Nixon hatte es einmal vorgeführt. Über dem
Flughafen hat der Vatikan weder seine winzige Eisenbahn
vergessen, noch den eigenen Wagenpark, mit den
Nummern SCV. Diese 97 Fahrzeuge, von 74
Beschäftigten betreut, legten 1973 noch über 600.000 Kilometer
zurück, die Fahrten sollen aus Sparsamkeit weiter reduziert
werden. Ganz wird die SCV-Nummer, die im heutigen
am Autoverkehr erstickenden Rom längst nicht
mehr so auffällt, freilich nicht verschwinden. Sie darf es
schon deshalb nicht, weil sonst der römische Volksmund
ein Bonmot weniger hätte: Als der neue Staat durch den
faschistischen Duce Mussolini und Kardinalstaatssekretär
Gasparri im Namen seiner Heiligkeit aus der Tauf
gehoben worden war, hatten die Römer für die Auto-
nummern SCV ihre Deutung parat. Von vorn gesehen
ergab SCV "se cristo vedesse" (wenn Christus das sähe)
und von rückwärts (VCS) die Antwort "Vi cacciarebbe
subito" (würde er euch sofort verjagen).
Der Alltag dieses Staates spielt sich im wahrsten Sinne
des Wortes auf zwei Jahrtausenden Kirchengeschichte
und römischer Antike ab. Unter dem Autopark werden
zur Zeit die Schächte einer Nekropole erforscht. Die
Peterskirche, die Paläste, die Kaufläden, die
Tankstellen, die unschätzbaren Museen und die Rumpelkammer
der apostolischen Floreria, sie aller ruhen
auf einem Gräberfeld, in das man durch die Peterskirche
hinabsteigen kann. Und von einem dieser Gräber leitet
jener Zwergstaat seinen Anspruch ab, deshalb krallten
sich die Päpste an diesen Stückchen Erde, in dem
Petrus begraben sein soll. Von Peters Schlüssel nimmt
der SCV-Staat seine Siegel.
Quelle: Merian Nr. 12/29. Jahrgang
"Der Zwergstaat Vatikanien", Helmut Herles
Päpste im 20. Jahrhundert:
Pius X, 4. August 1903 - 20. August 1914
Benedikt XV, 3. September 1914 - 22. Januar 1922
Pius XI, 6. Februar 1922 - 10. Februar 1939
Pius XII, 2.März 1939 - 9. Oktober 1958
Johannes XXIII, 28. Oktober 1958 - 3. Juni 1963
Paul VI, 21. Juni 1963 - 6. August 1978
Johannes Paul I, 26. August 1978 - 28. September 1978
Johannes Paul II, seit 16. Oktober 1978
Quelle: "Der Vatikan - Ein Porträt des Kirchenstaates", Geografic Society
BLB Karlsruhe: 92B54
Bearbeitung der Texte für die Rom-Studienfahrt ’97 der 11. Klasse des
Fichte-Gymnasium Karlsruhe durch Alexander Lütjen und Jan van Raay